Traditionelle Anlagen
22. Januar 2024

Versicherer: Altlasten bremsen Neuaufstellung

Das gestiegene Zinsniveau bringt Versicherungskonzernen eine ­große Entlastung. Doch mit den höheren Renditen auf Festverzinsliche lösen sich nicht alle Anlageprobleme in Luft auf. Altlasten in den Beständen begrenzen die Spielräume bei den Investment-Entscheidungen, und dazu kommen neue Herausforderungen.

Die gestiegenen Zinsen kommen auch bei den Lebensversicherten an: Nachdem die Überschussbeteiligungen in der Branche meist deutlich anziehen, schlug die Deutsche Aktuarvereinigung (DAV) vor kurzem die Anhebung des Höchstrechnungszinses für Neuverträge von 0,25 auf 1,00 Prozent vor: Der Garantiezins für neu abgeschlossene klassische Lebensversicherungen dürfte damit 2025 erstmals seit 1994 wieder deutlich steigen – eine willkommene Unterstützung angesichts der zunehmenden Konkurrenz von flexiblen und attraktiven Vorsorgeangeboten der Banken und Fondshäuser für langfristige Sparer.

Auch bei den Investmentsparten der Versicherer hat sich die Stimmung mit dem Zinsanstieg gebessert, doch zahlreiche Herausforderungen bestehen weiter: Hohe Volatilität und Unsicherheit erschweren die Anlage, dazu stoßen gerade Lebensversicherer bei der zinsbedingten Neuausrichtung ihrer Portfolios auf verschiedene Hürden. Branchenweit nimmt zudem die Regulatorik und Nachhaltigkeitsberichterstattung auch auf der Anlageseite immer mehr Ressourcen in Anspruch.

Stille Verluste erschweren rasche Umschichtungen

Kurz vor Jahresende steht für viele Versicherer die Erzielung des handelsrechtlichen Ergebnisses im Vordergrund – große ­Umschichtungen gehen sie in dieser Zeit kaum an. Die Lebensversicherer haben kräftig vom Anstieg des Renditeniveaus profitiert. Der Zinsanstieg seit Anfang 2022 hat zwar die Kurse langlaufender Anleihen massiv unter Druck gesetzt. Auf Grund der längeren Laufzeit und der resultierenden Konvexität sanken aber die abdiskontierten Verbindlichkeiten deutlich stärker.

Doch das strategische Anlageziel der Investment-Entscheider für kommendes Jahr ist klar: Sie wollen vor allem die höheren Zinsen bei langlaufenden Anleihen nutzen, um ihre Portfolios langfristig aufzustellen. „Wir sehen einen klaren Trend in Richtung Fixed Income und Direkt­bestand“, berichtet etwa Wolfgang Kaiser, Leiter Fiduciary CRM bei der Meag. Staats- und staatsnahe Anleihen sowie besicherte Papiere und hochwertige Unternehmensanleihen sind wieder gefragt. Vor allem den Direktbestand füllen Versicherer wieder auf.

Doch beim Aufbau ihrer Fixed-Income-Bestände kommen die Konzerne oftmals langsamer voran als gewünscht. Die Investitionen müssen entweder aus den Prämieneinnahmen getätigt werden, aus der Wiederanlage von Fälligkeiten oder über Umschichtungen aus bestehenden Anlagen. Die meisten Konzerne haben aber schlichtweg nicht ausreichend Positionen, die sie einfach und kurzfristig in langlaufende Anleihen umschichten können.

Grund ist, dass viele Portfolios noch umfangreiche Altlasten an gering verzinsten Anleihen aus der Niedrigzinsphase mit langen Restlaufzeiten enthalten, die aktuell weit unter Einstandskursen notieren. Wer diese Anleihen verkauft, realisiert die Kursverluste, die dann auch ergebniswirksam werden. „Diese stillen Lasten reduzieren natürlich die Flexibilität in der Neuausrichtung der Kapitalanlage“, sagt Johannes Mertsching, Leader Capital Markets and Strategy beim Beratungsunternehmen Mercer.

Bei vielen Versicherern verdoppelten sich die unrealisierten Verluste auf ihre Fixed-Income-Portfolien mit dem Zinsanstieg. Das zeigt etwa die Statistik der Bundesbank für die 81 deutschen Lebensversicherer. Bereits in Q2 2022 – als der Zinsanstieg noch voll im Gange war – wechselten deren aggregierte Nettopositionen unterm Strich von stillen Reserven zu stillen Lasten. Für Mitte 2023 konstatiert die Bundesbank bei neun von zehn Lebensversicherern stille Lasten im Anlagebestand. „Die stillen Lasten könnten in künftigen Stressphasen den Spielraum der Lebensversicherer für antizyklische Investitionen begrenzen“, warnen die Bundesbank-Analysten im aktuellen Finanzstabilitätsbericht. Ihrer Einschätzung nach können deutsche Lebensversicherer nur rund fünf Prozent ihrer Kapitalanlagen kurzfristig liquidieren, ohne stille Lasten zu realisieren.

Statt kurzfristigem Aktionismus raten Consultants zu einer nachhaltigen und vorausschauenden Ausrichtung: „Es kommt vor allem darauf an, die Asset Allocation stabil und zukunftsorientiert aufzustellen. Hierzu gehört beispielsweise, das Portfolio gegenüber nachteiligen Marktbewegungen abzu­sichern, aber auch die Berücksichtigung unterschiedlicher Klima­szenarien in der Ableitung der strategischen Asset Allocation“, so Nicola Schierz, Segment Growth Leader Insurance bei Mercer.

Im Bereich Private Assets haben die Versicherer – wie viele andere langfristige Investoren auch – ihre Zielgrößen besonders in der Zeit der Niedrigzinsen deutlich erhöht. Ganz überwiegend bauen sie diese Quoten auch im schwierigeren aktuellen Umfeld weiter aus oder halten diese zumindest konstant. Laut einer Goldman-Sachs-Umfrage planten Mitte des Jahres 43 Prozent der befragten Versicherungs-CFOs und CIOs in der Region EMEA, den Privatmarktanteil in ihren Anlagebeständen insgesamt weiter zu erhöhen. 47 Prozent wollten ihn konstant halten, nur zehn Prozent planten eine Senkung.

„Alleine dadurch, dass häufig noch ­Commitments zu erfüllen sind, steigt die tatsächliche Quote der Private Assets“, sagt Meag-Experte Kaiser. Er beobachtet zwar aktuell etwas mehr Zurückhaltung bei Neuengagements, doch generell gelte: „Private Assets haben sich als fester Bestandteil etabliert.“ Selektives Interesse bestehe momentan an besonderen Themen oder Aspekten wie Artikel-9-Fonds.

Die größten Privatmarktanteile in den Portfolios nehmen dabei meist Private Debt, Private Equity und Immobilien ein. Mercer-Expertin Schierz sieht derzeit vorwiegend im Bereich Private Equity und Real Estate Zurückhaltung. Dabei ist die Immobilienquote nach einer Untersuchung der Beratungsfirma EY 2023 auf einen neuen Höchststand von rund 13 Prozent gestiegen, noch vor zehn Jahren lag sie nur bei durchschnittlich sieben Prozent.

Nach Einschätzung von EY zeichnet sich aber auch aufgrund der deutlich gesunkenen Renditeerwartungen sowohl für direkte als auch indirekte Bestände eine Trendumkehr ab: In einer EY-Umfrage rechnen nur noch 14 Prozent statt wie im Vorjahr 50 Prozent der Anlageentscheider mit einer weiteren Erhöhung der Immobilienquote. Mit 68 Prozent erwartet der Großteil einen gleichbleibenden Anteil: „Versicherungen haben mit Blick auf Immobilien einen sehr langfristigen Anlagehorizont und stützen mit ihrer Eigenkapitalstärke den derzeit fragilen Markt. Obwohl sie sinkende Gesamtrenditen antizipieren, sehen sie nach wie vor von Desinvestitionen im großen Stil ab und kaufen teils selektiv zu“, sagt Jan Ohligs, Partner bei EY Real Estate.

Anleger bauen Aktien ab

Zu den Opfern der gestiegenen Attraktivität langfristiger Zinsen zählt offenbar der Aktienbestand, der meist im niedrigen einstelligen Prozentbereich liegt. „Diese Positionen sind oftmals im Plus und darüber hinaus am Markt liquide gehandelt. Damit können sie bei Bedarf günstig aufgelöst werden, um die Gesamtportfolioallokation an das neue Kapitalmarktumfeld anzupassen“, so Mercer-Experte Mertsching.

Jüngstes prominentes Beispiel: Die Gothaer Versicherungsgruppe aus Köln hat ihre Aktienquote vor kurzem dauerhaft auf null gesenkt und ist komplett aus der Asset-Klasse ausgestiegen. Das Aktien-Exposure soll über Private Equity abgebildet werden, erklärte dazu Alina vom Bruck aus dem ­Vorstand der Gothaer AM. Auch wenn andere Versicherer das nicht so deutlich kommunizieren, dürfte der Aktienbestand bei vielen deutlich nach unten gerutscht sein. Dazu passt auch, dass manche Aktien-Manager über Abflüsse aus institutionellen Fondsklassen berichten. Zu den wenigen weiteren Bereichen, in denen oftmals stille Reserven zu heben sind, zählen Nischenthemen wie Lokalwährungsanleihen aus Schwellenländern.

Auch die freiwerdende Zinszusatzreserve könnten die Versicherer nutzen, um Verluste bei der Realisierung stiller Lasten zu mindern. Die in der Spitze fast 100 Milliarden Euro schwere Rückstellung, die Versicherer in den Jahren der Niedrigzinsen aufbauen mussten, um die Zinsgarantien für Altverträge abzusichern, sinkt und setzt schrittweise Mittel frei. Bei einem anhaltend höheren Zinsniveau wird die Zinszusatzreserve künftig nach und nach abgebaut und stützt die Ertragslage.

Ein weiterer – externer – Faktor steht der Erhöhung der Zinsduration im Weg: Denn am Markt sind entsprechend langlaufende Zins­papiere nicht unbegrenzt vorhanden. Noch immer sitzt die Europäische Zentralbank (EZB) auf einem enormen Bestand an Staats- und Unternehmensanleihen. Viele Emittenten halten sich zudem angesichts der aktuellen Zinskonditionen zurück. So verzeichnet das DZ Bank Research zwar einen Anstieg der Euro-Credit-Emissionen gegenüber dem schwachen 2022, allerdings konzentrieren sich die Emittenten auf kürzere Laufzeiten.

Meag-Experte Kaiser nutzt beim Aufbau von Duration zahlreiche andere Möglichkeiten, etwa im Bereich Kommunaldarlehen. Er sagt: „Hier arbeiten wir oft direkt mit dem Treasurer der Kommunen zusammen, um Private Placements und Schuldscheine mit passenden Konditionen zu konstruieren, von denen unsere konzerneigenen als auch Drittkunden profitieren.“

Ganz anders als bei „Leben“ trifft die Zeitenwende Schaden- und Unfallversicherer in der Anlagestrategie. Hier ist die Duration der Anlage weitaus kürzer und die Asset-Allokation der Rentenseite kann entsprechend rascher an die geänderten Zinsen angepasst werden. Allerdings sind die Kosten auf der Passivseite explodiert: Die Schadeninflation, die den Anstieg der Verbraucherpreise teils weit überschreitet, macht sich in den Prämienbescheiden bemerkbar, die vielen Kunden aktuell ins Haus flattern. Laut einer Erhebung von Verivox und Check24 sind im Kfz-Sektor die Beiträge für Haftpflicht, Teilkasko und Vollkasko 13 Prozent teurer geworden.

Versicherungs-Asset-Manager profitieren

Doch Versicherer profitieren nicht nur in ihrer eigenen Kapital­anlage von gutem Asset Management, viele von ihnen verdienen auch kräftig mit Asset-Management-Dienstleistungen für Drittkunden einschließlich der eigenen Konkurrenz. Denn neben bankeigenen Asset Managern sind versicherungseigene Vermögensverwalter die wichtigen Player am Markt. Allein unter den Top Ten der deutschen Asset Manager stammen vier aus dem Versicherungsbereich – die Allianz als Marktführer wartet mit gleich zwei hauseigenen Vermögensverwaltern auf: AGI und Pimco. Die versicherungseigenen Vermögensverwalter steuern in vielen Konzernen einen markanten Teil zum operativen Gewinn des Mutterkonzerns bei.

Im Drittkundengeschäft der versicherungseigenen Manager stehen neben dem klassischen Publikumsfondsgeschäft vor allem Pensionskassen und Versicherungskunden im Fokus. Hier punkten sie oftmals gegenüber der Konkurrenz unabhängiger oder bankeneigener Manager. „Gerade Kunden aus dem Versicherungsbereich schätzen unseren umfassenden Versicherungs-Background und Versorgungswerke sehen uns als Experten für langfristig ausgerichtete Direktanlagen“, sagt Meag-Fiduciary-CRM-Leiter Kaiser.

Insbesondere in der Zeit der Expansion in neue Anlageklassen kam Bewegung in den Markt für externes Insurance Asset Management. Zahlreiche Versicherer expandierten verstärkt in Bereiche der Privatmärkte, in denen sie noch keine umfassende eigene Expertise aufgebaut hatten. Gerade in Spezialbereichen sind externe Manager oft im Vorteil: „Dies sind häufig Private Assets, Emerging Market oder auch Impact-Investitionen“, so Mercers Spezialistin Schierz.

Für Versicherer ist es dabei ein Vorteil, wenn Asset Manager mit versicherungsspezifischen Vorschriften wie Solvency II vertraut sind. „Es ist für uns eine Kernfrage an den Bewerber um ein Mandat, ob er schon deutsche Versicherungs­kunden hat oder nicht“, heißt es auf der Versicherungsseite. Die Transparenz und den Erfolgsdruck spüren die Vermögensverwalter aber umgekehrt auch in ihrem „Heimatmarkt“: „Hauseigene Asset Manager stehen in Konkurrenz zum Markt, dies gilt sowohl in Bezug auf Expertise und Marktzugang in den verschiedenen Asset-Klassen als auch in Bezug auf das Pricing“, erklärt Nicola Schierz.

Mit der veränderten Zinssituation ist die durchschnittliche aufsichtsrechtliche Solvenzquote (SCR) der deutschen Lebensversicherer deutlich gestiegen. Nach Angaben der Ratingagentur Assekurata kletterte die SCR 2022 von 474 auf 614 Prozent. Doch die höheren Zinsen bringen auch Herausforderungen: So warnte die Bundesbank in ihrem jüngsten Finanzstabilitäts­bericht, eine zins- und inflationsbedingte, massive Kündigungswelle bei bestehenden Lebensversicherungen könnte potenziell ein systemisches Risiko heraufbeschwören. Im vergangenen Jahr lag die Stornoquote nach Zahlen des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) noch bei niedrigen 2,51 Prozent, für 2023 liegen noch keine Zahlen vor.

Das kritische Zinsniveau, bei dem eine hypothetische Kündigungswelle den Fortbestand einzelner Lebensversicherer gefährden könnte, taxieren die Bundesbank-Autoren auf 4,3 Prozent und damit weit über dem aktuellen Zehnjahressatz. Zugute kommt den 81 deutschen Lebensversicherern außerdem, dass die individuellen Hürden und die Kosten bei der Kündigung recht hoch sind. In Frankreich und Italien sind die Risiken deutlich höher, da Versicherte ihre Verträge zu relativ guten Konditionen kündigen können.

Im Fall des angeschlagenen italienischen Lebensversicherers Eurovita musste die dortige Aufsicht Anfang 2023 weitere Vertragskündigungen untersagen, bis eine Abwicklungslösung organisiert worden war. Lebensversicherungen in den USA können zudem die Rückkaufswerte an das Niveau der Marktzinsen anpassen. Versicherer müssen damit keine Verluste realisieren, wenn sie Anleihen unter Einstandswerten verkaufen müssen. In Deutschland wird dagegen seit der Reform des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) im Jahr 2007 die Höhe der Rückkaufswerte bei Vertragsbeginn festgelegt, eine zinsabhängige Berechnung ist ausgeschlossen.

Hintergrund: Derivate

Vor allem große Lebensversicherer, die verstärkt Derivate einsetzen, sind in volatilen Marktphasen zudem potenziell Liquiditätsrisiken aufgrund steigender Nachschusspflichten aus ihren Zinsderivaten ausgesetzt. So hielten deutsche Versicherungen Ende 2022 Derivate mit einem Nominalwert von gut 850 Milliarden Euro. Das entspricht in etwa einer Verdopplung seit 2014. Marktpreisveränderungen können hier zu Nachschusspflichten und somit Liquiditätsabflüssen führen. Insofern haben die Versicherer zwar vom bisherigen Zinsanstieg profitiert, ein weiterer Anstieg dürfte aber angesichts der möglichen negativen Konsequenzen nicht ganz oben auf der Wunschliste der Anlageentscheider stehen.

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