Lücke(n) in der Klimadebatte
Immer mehr Unternehmen, Investoren und Asset Manager bekennen sich zum Klimaschutz. Dabei steht die „Netto-Null“ im Vordergrund. Die Zahl der Investoren und Asset Manager, die Net-Zero-Initiativen beitreten, steigt derzeit rasant. Doch was bedeutet Net-Zero eigentlich und wie müssen sich Investoren gleichzeitig auch auf den Klimawandel vorbereiten?
Es ist, als ob die Corona-Pandemie den Menschen und den Unternehmen etwas verdeutlicht hätte, was davor undenkbar schien: Es geht auch mit weniger. Weniger Reisen, weniger Meetings, weniger Büropräsenz und damit verbunden weniger Fahrten von und zur Arbeit, weniger Dienstreisen und weniger Flugverkehr. Laut dem Statistikportal Statista.de nahmen der Reise- und insbesondere der Flugverkehr allein in Deutschland im Jahr 2020 um 132 Millionen Flugpassagiere ab. Damit gab es rund 64 Prozent weniger Flugpassagiere als ursprünglich erwartet. Und auch im Winter 2020/21 setzte sich der Trend fort: In der Woche vom 21. Januar 2021 gab es weltweit rund 50 Prozent weniger geplante Flüge als in der Vorjahreswoche. Auch der Luftfrachtverkehr sei durch den Rückgang der Exporte zurückgegangen. All das hatte Auswirkungen auf die globalen CO₂-Emissionen: Laut Medienberichten, die auf das Forschungsnetzwerk „Global Carbon Project“ (GCP) verweisen, ging der Ausstoß von Kohlendioxid aus der Verbrennung von Kohle, Gas und Öl in diesem Jahr um sieben Prozent im Vergleich zu 2019 zurück. Man habe mit 34 Milliarden Tonnen CO₂ rund 2,4 Milliarden Tonnen weniger emittiert. Besonders groß war der Rückgang in den Industrieländern: In den USA ging er um zwölf Prozent zurück, in der EU um elf Prozent. Der Sektor mit dem größten Emissionsrückgang war dem Bericht zufolge das Verkehrsaufkommen und hier vor allem die Luftfahrt, wobei der Ausstoß von CO₂ um 22 Prozent sank, mancherorts sogar um 30 Prozent.
Doch so erfreulich die kurzfristige Erholung erscheint, so bitter auch die Konsequenz, mit der die globalen Klimaanstrengungen aktuell und in den kommenden Jahren verfolgt werden müssen, um die Pariser Klimaziele noch zu erreichen: Nach Informationen des Netzwerks Global Carbon Project müssten bis 2030 bis zu zwei Milliarden Tonnen CO₂ weltweit eingespart werden, um die Pariser Zielvorgaben einzuhalten – jedes Jahr. Und wie es der französische Klimaexperte Jean-Marc Jancovici bei einem Candriam-ESG-Talk im Frühjahr auf den Punkt brachte: Man müsse jedes Jahr ein „Extra-Covid“ hinzufügen, um die Klimaziele von Paris noch zu erreichen: Dieser womöglich etwas zynische Vergleich verdeutlicht jedoch das Ausmaß der Anstrengungen, die in den kommenden Jahren auch auf die Finanzindustrie zukommen. „Dass wir die CO₂-Emissionen reduzieren können, und dabei unser Bruttoinlandsprodukt stabil auf gleichem Niveau halten, daran glaube ich nicht“, so Jancovici, der als Vordenker der französischen Methode des Carbon Accounting gilt und Mitbegründer der auf Klimafragen spezialisierten Beratungsfirma Carbone 4 ist. Nach UN-Schätzungen müssten die weltweiten Treibhausgasemissionen in diesem Jahrzehnt jedes Jahr um 7,6 Prozent sinken, um das Pariser Klimaabkommen umzusetzen.
Derweil nimmt die Zahl der Investoren und auch der Asset Manager, die sich Net-Zero-Initiativen anschließen, rasant zu. Im April gab die Allianz, ein Gründungsmitglied der globalen Net-Zero Asset Owner Alliance (AOA), bekannt, eine Reduzierung der Kohlenstoffemissionen ihres globalen Portfolios um 25 Prozent bis 2025 anzustreben. Die Senkung sei Teil des weitreichenden und umfassenden globalen Nachhaltigkeitsprogramms des Unternehmens, das 2019 gestartet wurde, teilte das Unternehmen mit. Im Mai 2021 trat auch die Bayerische Versorgungskammer als erster Altersversorger in Deutschland der AOA bei. Im Juli dann folgte die Hanse-Merkur als nun fünftes deutsches Mitglied des internationalen Bündnisses aus mehr als 40 institutionellen Großinvestoren, die zusammen ein Vermögen von rund sieben Billionen US-Dollar verwalten. Zu den weiteren deutschen institutionellen Investoren der AOA gehören Munich Re und der Kenfo.
Blinde Flecken in der Klimapolitik
Wie nun die Studie: „Seeing past the blind spots in climate finance“ der ESG-Rating-Agentur ISS ESG von Ende Mai nahelegt, gibt es in der aktuellen Debatte um Klimaschutz und Anpassung an den Klimawandel, die zwei aktuellen Umweltziele der EU-Taxonomie und mit dem Pariser Klimaabkommen die beiden wichtigsten klimarelevanten Ziele für Investoren, einige blinde Flecken. Dabei wirft die Studie drei Fragestellungen auf: Was passiert zum Beispiel, wenn die Transformation, also der Umbau der Wirtschaft zu CO₂-armen Wirtschaftsformen nicht oder nicht in dem Maße gelingt, um die Pariser Klimaziele, und damit die Erderwärmung auf „well below 2 degrees“, also auf 1,5 Grad, zu begrenzen, wie es im Klimaabkommen von 2015 heißt? Net-Zero-Verpflichtungen seien gefragt, schlössen jedoch die Nutzung von Technologien ein, die eine echte Reduzierung des atmosphärischen Kohlenstoffs bedeuteten, und die aktuell noch nicht verfügbar sind. „Netto-Null-Verpflichtungen verbreiten sich wie ein Lauffeuer, aber nicht viele Investoren erkennen die Realität an, dass Net Zero-Ziele nicht nur Kompensationen, sondern echte Reduktion des atmosphärischen Kohlenstoffs erfordern“, heißt es in dem Bericht. Und drittens, fragt sich die ESG-Rating-Agentur, wächst mit den Verpflichtungen auch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in Sachen Klimaschutz und Klimawandel. Rechtsstreitigkeiten und öffentliche Kampagnen könnten Unternehmen zusätzlich unter erheblichen Trans-
formationsdruck bringen.
Was die Transformationsleistungen angeht, sieht die Studie auch Potenziale und Chancen für Investoren: „Die Planung der Anpassung an den Klimawandel kann den Weg zu neuen Investitionsmöglichkeiten öffnen und sollte zumindest die Dringlichkeit der erforderlichen Maßnahmen verdeutlichen“, so die Studie. Sie unterscheidet hier aus der Perspektive der Investoren zwischen Klimarisiken und Klimaopportunitäten. Erstere bestehen darin, womöglich zu lange in die Unternehmen investiert zu sein, die sich als Verlierer der Klimatransformation entpuppen werden. Das könne sowohl Unternehmen betreffen, die in einem 1,5-Grad-Szenario nicht mehr existieren, als auch solche, die theoretisch die Anpassung schaffen könnten, aber praktisch nicht dazu in der Lage sind – also solche Unternehmen, die Transitions-Risiken bergen. Diese Risiken gelte es aufzuspüren und zu vermeiden. Hingegen seien solche Investoren stark im Vorteil, die frühzeitig die Klima-Gewinner identifizieren, das heißt auch solche Unternehmen, die nicht nur die Transformation vollziehen, sondern auch die Lösungen bieten, damit andere Unternehmen den Wandel zu einer 1,5-Grad-Ökonomie schaffen. Die Internationale Energie Agentur rechnet gemäß einer aktuellen Studie mit einer Opportunität von sogar etwa fünf Billionen US-Dollar an Investitionen in neue Energiequellen bis 2030.
Der Bericht der Internationalen Energieagentur (IEA): „Net Zero by 2050 – A Roadmap for the Global Energy Sector“ vom Mai, den die ESG-Rating-Agentur ISS ESG in ihrer neuen Studie als „bahnbrechend“ einstuft, zeigt den Weg der internationalen Staatengemeinschaft in Richtung einer Netto-Null-Emissionspolitik bis 2050 auf. Die Agentur erstellt darin ein so genanntes Netto-Null-Emissionen-Szenario (Net-Zero-Emissions Szenario, NZE), das zeigt, was erforderlich ist, damit der globale Energiesektor bis 2050 Netto-Null-CO₂-Emissionen erreicht. Zusammen mit einer entsprechenden Reduzierung der Treibhausgasemissionen außerhalb des Energiesektors basiert dieses Szenario auf einer Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf 1,5 Grad ohne Temperaturüberschreitung (mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent). Das NZE-Szenario soll zeigen, was an Treibhausgaseinsparungen von den verschiedenen Akteuren in den wichtigsten Sektoren an CO₂-Emissions-Reduktionen nötig ist, damit die Welt bis 2050 die Netto-Null aus CO₂-Emissionen aus Energie und industriellen Prozessen bis 2050 erreicht. Es zielt auch darauf ab, die Methan-Emissionen aus dem Energiesektor zu minimieren. Gemäß der Berechnungen der IEA war der Energiesektor in den vergangenen Jahren für rund drei Viertel der weltweiten Treibhausgasemissionen (THG) verantwortlich.
Net-Zero basiert auf CO₂-Sequestrierung
Die schnellsten und größten Reduzierungen der globalen Emissionen im NZE-Szenario finden sich zunächst im Elektrizitätssektor (siehe Abbildung auf Seite 28). Die Stromerzeugung war die größte Emissionsquelle im Jahr 2020, doch gehen hier die Emissionen bis 2030 um fast 60 Prozent zurück, was vor allem auf eine erhebliche Verringerung der Emissionen von Kohlekraftwerken zurückgeht. Der Stromsektor soll um 2040 zu einer kleinen negativen Netto-Emissionsquelle werden. Die Emissionen aus dem Gebäudesektor gehen demnach zwischen 2020 und 2030 um 40 Prozent zurück, was auf die Abkehr von der Verwendung von Heizkesseln für fossile Brennstoffe und die Nachrüstung des bestehenden Gebäudebestandes zur Verbesserung seiner Energieeffizienz zurückzuführen ist. Die Emissionen aus Industrie und Verkehr sinken in diesem Zeitraum jeweils um etwa 20 Prozent, und das Tempo der Emissionssenkungen beschleunigt sich in den 2030er Jahren, wenn die Einführung emissionsarmer Brennstoffe und anderer Optionen zur Emissionsminderung ausgeweitet wird. Dennoch gebe es eine Reihe von Bereichen in Verkehr und Industrie, in denen es schwierig ist, die Emissionen vollständig zu beseitigen – wie im Luftverkehr und in der Schwerindustrie – und beide Sektoren weisen im Jahr 2050 ein geringes Niveau an Restemissionen auf. Diese Restemissionen werden kompensiert durch den Einsatz von BECCS (bioenergy with carbon capture and storage) und DACCS (direct air capture with carbon storage). BECCS und DACCS bezeichnen demnach Technologien zu Entnahme und Speicherung von CO₂, die auch als CO₂-Abscheidung oder -Sequestrierung bezeichnet werden.
Wie die Abbildung rechts auf Seite 28 zeigt, müssen die noch emittierten Treibhausgase im Jahr 2050 zu 100 Prozent mit CO₂-Sequestierungs-Technologien ausgeglichen werden, damit eine echte CO₂-Neutralität erreicht werden kann. Aber viele dieser für eine CO₂-Neutralität notwendigen Technologien sind derzeit noch nicht existent. So kritisiert die Studie von ISS ESG: „Der Begriff „Netto-Null“ wird austauschbar mit den Begriffen „nach Paris ausgerichtet“ und „klimaneutral“ verwendet. Er wird oft fälschlicherweise als das Ergebnis der Reduzierung der vom Menschen verursachten (anthropogenen) Treibhausgasemissionen auf Null angesehen. Eine solche Reduzierung auf Null ist jedoch in der Praxis nahezu unmöglich. Selbst wenn wir alle fossile Elektrizität abschaffen und unser Haus stattdessen mit einer Kerze beleuchten, stoßen wir immer noch Treibhausgase aus.“ Net-Zero erfordere gleichzeitig Investitionen, um die verbleibenden Treibhausgasemissionen aus der Atmosphäre zu entfernen – durch die rasche Entwicklung und Verbreitung von Technologien zur Beseitigung von Kohlenstoff. „Dieser Teil der Gleichung, die Sequestrierung von Treibhausgasemissionen – auch bekannt als Kohlenstoffabscheidung – findet bei den Investoren nur wenig Beachtung“, kritisiert die Studie von ISS ESG. „Es fehlen in diesem Bereich die größeren Projekte und man befindet sich bei der CO₂-Sequestrierung größtenteils noch im Experimentierstadium“, kritisiert denn auch Viola Lutz, Head of the ISS ESG Climate Practice und Autorin der Studie. „Es wird einen Restausstoß an CO₂ geben, der sehr schwierig zu vermeiden ist, was vor allem an chemischen Prozessen in der Industrie liegt. Dabei liegt die CO₂-Sequestrierung noch am Anfang der technologischen Entwicklung, Entwicklungsinvestitionen müssen dringend starten.“
Klimaexperte und Wissenschaftler Jean-Marc Jancovici warnt derweil vor zu viel Optimismus, was die Speicherungs- und Entnahme-Technologien von CO₂ aus der Atmosphäre betrifft, die „natürlichweise ein sehr langsamer Prozess“ sei. So sagte er bei den Candriam-ESG-Talks: „Wir werden uns übergreifende Grenzen für den Treibhausgas-Ausstoß setzen müssen, was uns nicht gefällt. Technische Korrekturen helfen nicht weiter. Sie können helfen, wenn sie in den richtigen Rahmen passen. Aber einfach zu sagen, dass Ingenieure etwas finden werden, ist so, als würde man aus einem Flugzeug springen und glauben, dass man keinen Fallschirm braucht, bevor man auf dem Boden aufschlägt.“
Der Wandel, den die globalen Klimabestrebungen nach sich ziehen werden, könnte ebenso bedeutend sein wie die Mechanisierung im 19. Jahrhundert, mutmaßt ISS ESG in seiner Studie. Damit Investoren ihrem Bekenntnis zu Net-Zero auch gerecht werden, gilt es neben aller Anstrengungen für eine CO₂-Reduzierung in den Portfolien auch Klimarisiken und Transitionsrisiken im Blick zu behalten. Gleichzeitig sind Forschung und Entwicklung nötig für Carbon-Capture- und Carbon-Storage-Technologien, wenn man diese aktiv in ein Neutralitätsszenario einbezieht. Sonst könnte die Landung, um beim Bild von Jean-Marc Jancovici zu bleiben, auf dem Boden der Klimarealität hart ausfallen.
Autoren: Daniela EnglertSchlagworte: Klimaschutz | Klimawandel | Nachhaltigkeit/ESG-konformes Investieren
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