Immobilien
20. November 2020

50 Millionen leere Wohnungen als Altersvorsorge

In China hat sich eine gigantische Immobilienblase aufgebaut, insbesondere die Immobilienentwickler haben hohe ­Schuldenstände zu verbuchen. Die chinesische Regierung unternimmt inmitten der Pandemie stärkere Schritte, die Entwicklung zu dämpfen, ­riskiert jedoch dabei, die eigenen Einnahmequellen zu schwächen.

Geschätzt 50 Millionen Wohnungen – 22 Prozent aller städtischen Wohnungen – stehen laut einer Studie der Chengdus South­western University of Finance and Economics von 2018 leer. Die hohen Leerstandsraten sind das Ergebnis eines beispiellosen Baubooms: Allein in den drei Jahren von 2011 bis 2013 wurden in China 6,6 Milliarden Tonnen Beton verbaut, mehr als in den USA im gesamten 20. Jahrhundert. Es ist aber auch das Ergebnis der ­Privatisierung und Kommerzialisierung des Wohnimmobiliensektors, welcher zunehmend als Mittel zum Vermögensaufbau der wachsenden ­Mittelschicht fungiert. 22 Prozent der chinesischen Haushalte, so die Studie, besitzen mehr als eine Wohnung. 60 Prozent des von Haushalten gehaltenen Vermögens besteht aus Immobilien – mehr als die durchschnittlich 50 Prozent in Hocheinkommensländern. Die Gegenseite des hohen Leerstands und der hohen Eigentums­quoten ist ein kleiner Mietmarkt – nur 15 Prozent der Bevölkerung leben in einer Mietwohnung. „Diese niedrige Quote spiegelt begrenzte finanzielle Anreize für Bauträger wider, Mietwohnungen selbst zu bauen und zu verwalten, sowie Haushalte, die es ­vorziehen, Eigentum unbewohnt zu lassen und es als Wertaufbewahrungs­mittel zu nutzen“, analysierte die Reserve Bank of Australia im ­Juni 2020 in einem Bulletin. „Häuser werden gebaut um darin zu ­wohnen, nicht für Spekulation“, gab Staatspräsident Xi Jinping deshalb beim 19. Parteikongress 2017 ungewohnt deutlich die Linie vor. Geholfen hat es bislang wenig. „Es gibt kein anderes Land mit einer so hohen Leerstandsrate“, so Li Gan, Autor der genannten Studie. ­„Sollte auf dem Immobilienmarkt ein Riss auftauchen, werden die dann abgestoßenen Häuser China wie eine Flut treffen.“

Genau das fürchtet seit einiger Zeit die chinesische Regierung – und geht zunehmend gegen den Immobilienboom vor. Zwar ­wurden Anfang des Jahres temporär Regulierungen bezüglich des Verkaufs von Land gelockert. Bereits seit dem Sommer scheint ­Peking wieder die Zügel anzuziehen. Um einem weiteren ­Aufblähen der Blase vorzubeugen, werden laut einer breit zirkulierenden, wenn auch bislang inoffiziellen Regulierung für die zwölf größten Projektentwickler drei rote Linien eingeführt: Diese sollen bei einer Debt-to-Assets-Ratio von 70 Prozent, einer Net-Debt-to-Equity von 100 Prozent und einem Matching von Cash und kurzfristigen Verpflichtungen liegen. Wo eine Regulierung droht, sind Angebote zur kreativen Umgehung nicht weit – das ist in China nicht anders als in Deutschland. Besonders Ventures mit anderen Projektentwicklern sowie die bilanzielle Verpackung von Schulden als ­Eigenkapital mit festgelegten Returns werden beispielsweise laut einem Reuters-­Bericht als momentan schon praktizierte Möglichkeiten gesehen. Ob eine Ausweitung dieser Praktiken, welche dem Regulator natürlich nicht verborgen geblieben sind, in signifikantem Maße ­möglich ist, ist jedoch unklar. „Die Geschwindigkeit, mit der die Beamten in China von der Krisenreaktion zu einer weiteren Runde von ­Restriktionen für Bauträger übergegangen sind, hat viele überrascht“, schrieb Julian Evans-Pritchard von Capital Economics.

Bei den Bemühungen, den überhitzten Markt abzukühlen, muss die chinesische Zentralregierung jedoch vorsichtig vorgehen – nicht zuletzt, um sich selbst nicht das Wasser abzugraben. Denn sie ist zunehmend abhängig von den ­Einnahmen, welche durch die Vergabe von Landrechten und den Verkauf von Bauland entstehen. 2019 stammten laut dem Vermögensverwalter Seafarer Funds 38,6 Prozent der gesamten Staatseinnahmen aus der Vergabe von ­Landrechten, zusätzlich 14,3 Prozent aus Landverkäufen. Die ­Abhängigkeit von steigenden Landpreisen hat dabei in den ­vergangenen Jahren stark zugenommen. 2017 lagen die Ein­nahmen noch bei 30,2 respektive 12,1 Prozent.

Die Sorge der chinesischen Behörden kommt nicht unbegründet, spielten doch kreditgetriebene Boom-and-Bust-Zyklen im Immo­bilienbereich einen wesentlichen Hemmschuh in der volks­wirtschaftlichen Entwicklung vieler Staaten. So setzte das Platzen der Immobilienblase in Japan im Jahr 1990 dessen dynamischer wirtschaftlicher Entwicklung ein jähes Ende – eine Erfahrung etwa, welche den chinesischen Lenkern nur zu bewusst sein dürfte. ­Ähnliches scheint sich in China zu zeigen. Der Immobilienboom ist beträchtlich und wie bei jedem Boom gibt es zunächst einmal viele Gewinner: Laut einem Working Paper für die Federal Reserve Bank of St. Louis stiegen die Häuserpreise in China in der Dekade vor 2014 um fast das Doppelte des BIPs. Dies sei, so die Autoren, zunächst ­einmal sehr ungewöhnlich und angesichts hoher ­Leerstände und einem hohen Return on Capital (rund 20 Prozent in der Periode von 1998 bis 2002) mit neoklassischen Modellen nicht zu erklären. Ihnen gelingt es dennoch, den Boom zu rationalisieren, indem sie auf die rapide Transition hin zu einer Industriegesellschaft und die starke Urbanisierung hinweisen. Es sei davon auszugehen, dass die durch Ressourcenreallokation verursachten hohen Kapitalgewinne in Zukunft sinken werden: „So können ­rationale Erwartungen an eine deutlich niedrigere Kapitalrendite in ferner Zukunft die heutigen Unternehmergenerationen dazu veranlassen, nach alternativen Wertaufbewahrungsmöglichkeiten für ihr rasch wachsendes Vermögen zu suchen.“ Angesichts fehlender Anlagealternativen akkumuliere sich so viel Kapital im Immobilien­sektor und sorge für eine selbsterfüllende Prophezeiung.

Pre-sales der Projektentwickler machen Sorgen

Sorgen macht jedoch in jedem Fall die Verschuldung der Immobilienentwickler: Auf diese entfällt der komplette Anstieg der ­Verschuldung unter gelisteten Firmen in China im vergangenen Jahrzehnt. Allein 2019 emittierten chinesische Property Developer laut Daten von Refinitiv 46,23 Milliarden US-Dollar an Non-Investment-Grade-Debt. Insgesamt beträgt die Verschuldung der gelisteten Immobilienentwickler laut Seafarer Funds 1,046 Billionen US-Dollar-Äquivalente, von denen mittlerweile 375 Milliarden in US-Dollar denominiert sind und somit mit zusätzlichen Währungs­risiken einhergehen. Die enorme Verschuldung bringt chinesische Projektentwickler zunehmend in Bedrängnis. Ein Beispiel eines Projektentwicklers in Nöten ist die börsengelistete Tahoe Group, welche im Juli 2020 Zins- und Tilgungszahlungen in Höhe von 1,6 Milliarden Yuan (228 Millionen US-Dollar) einer 2017 emittierten Anleihe nicht zahlen konnte. Investoren sind dabei nicht die ­einzigen, welche seitdem um das Schicksal des Unternehmens bangen. So wies das Unternehmen Ende 2019 rund 7,1 Milliarden US-Dollar an Pre-Sales Income aus – Gelder aus dem Vorverkauf der Immobilien, welche als Verpflichtungen ausgewiesen werden müssen. In Filialen des Unternehmens mehrten sich die Besuche von besorgten Käufern, Privatpersonen, welche fürchten, dass Tahoe nicht mehr liquide genug ist, um die bereits bezahlten ­Wohnungen fertigzustellen und zu übergeben. Dabei ist dies ­keineswegs eine Eigenart von Tahoe. Anders als in vielen Staaten müssen die Einnahmen nicht bis Fertigstellung auf einem ­Treuhänderkonto geparkt werden, sondern können – wenn auch mittlerweile etwas reguliert – etwa für die Akquisition neuer ­Projekte verwendet werden. Der große Vorteil gegenüber ­klassischem Fremdkapital: keine Zinsen. Wie eine PWC-Studie zum chinesischen Real-Estate-Markt zeigt, waren Pre-Sales wohl aus diesem Grund das bevorzugte Instrument zur Geschäftssteigerung: An den Gewinnen der vergangenen zwölf Monate gemessen hatten die sich aus Pre-Sales ergebenden Contract Liabilities mit 1,3x fast die gleiche bilanzielle Bedeutung wie Bankkredite und Onshore-Bonds. Offshore-Bonds und Verbindlichkeiten gegenüber Auftragnehmern schlugen mit 0,3x und 0,2x zu Buche. Pre-Sales erlebten einen starken Anstieg seit 2015, wo diese nur auf Höhe von 0,6x lagen.

Probe erfolgt im kommenden Jahr

Die Probe der Solvenz der Immobilienentwickler erfolgt im ­kommenden Jahr: Laut Analysten von ANZ werden im Jahr 2021 Onshore-Anleihen in Höhe von 526 Milliarden Yuan (77,46 Milliarden US-Dollar) sowie 50 Milliarden US-Dollar an Offshore-Dollar-Bonds fällig – 16 Prozent respektive 47 Prozent mehr als in 2020. Um diese bedienen zu können, sind die Unternehmen auf eine Fortsetzung der Wachstumsstory angewiesen. Immerhin scheinen die Effekte der Corona-Pandemie in China begrenzt zu bleiben: „Das Wachstum des vertraglich vereinbarten Verkaufswerts (auf der Basis des gleitenden Dreimonatsdurchschnitts) beschleunigte sich von 9,4 Prozent im Juni auf starke 15,1 Prozent im Juli, was auf den Anstieg sowohl der Verkaufsvolumen als auch der Immobilienpreise zurückzuführen ist. Dies deutet darauf hin, dass der Sektor die Auswirkungen des Coronavirus abgeschüttelt hat und seinen Wachstumspfad fortsetzt“, sagt Danny Chan, ein stellvertretender Vizepräsident und Analyst von Moody‘s. Ein kreditgetriebener ­Immobilienboom lebt von seiner Fortsetzung, die womöglich nun noch einmal, wenn auch gedämpft in die Verlängerung geht.

Deutsche Investoren beginnen erst zaghaft, in chinesische ­Immobilien zu investieren. Interesse an chinesischen Immobilien, gleichwohl im Bürosektor, haben die Allianz und die BVK gezeigt. Während der Versicherungsriese bereits 2018 direkte Investitionen in Büros tätigte, zog die BVK im Oktober 2019 mit einer Beteiligung an den Yi Fang Towern in Shanghai nach. Andere Investoren ziehen sich derweil komplett aus China zurück: So kündigte der ­dänische Pensionsfonds Akademiker-Pension an, sich von Aktien und Staatsanleihen zu trennen. Grund hierfür sind die massiven und systematischen Menschenrechtsverletzungen der chinesischen Regierung: „Akademiker-Pension hat sich unter anderem mit Chinas aktuellem Sicherheitsgesetz für Hongkong befasst, dass über eine Million Uiguren in Umerziehungslagern sitzen und dass China häufig die Todesstrafe anwendet und Minderheiten und politische Gegner verfolgt“, so der Fonds in einer Erklärung.

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